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Alltag in Montreal

Alltag in Montreal, ist das anders als in Rheinbach? Ein bisschen schon, schließlich ist Montreal doch ein ganzes Stück größer, amerikanischer und französischer. Schau’n wir doch mal genauer hin. Für Franziska und Felix spielt sich der größte Teil des Alltagslebens gleich um die Ecke ab, an der École Secondaire Jeanne-Mance. Bis halb vier haben sie Schule und danach zweimal die Woche in den Schulmannschaften Sport, Franziska Fußball, Felix Basketball. Das hört sich nach ähnlichen Tagesabläufen an, doch die beiden erleben zwei ganz verschiedene Seiten des Schulsystems von Quebec.

Franziska, die mit drei Jahren Französischunterricht keine schlechte Grundlage aus Deutschland mitbringt, geht in die ganz normale neunte Klasse, wo sie die Höhen und Tiefen der Gesamtschul-Oberstufe Quebecs erlebt: Frontalunterricht, Kurssystem, Einzeltische, und die meisten Schüler kennen viele ihrer Mitschüler nicht mit Namen. Rückfragen an den Lehrer sind nicht während des Unterrichts, sondern in der Mittagspause oder nach der Schule zu stellen. Fast schon wie an einer Uni, außer vielleicht beim Niveau, denn mit Themen wie „He, she it, das s muss mit” hatte sie im Englischunterricht der 9. Klasse eines Landes, dessen Landessprache immerhin auch das Englische ist, nicht gerechnet.

Felix und Katharina, die aus Deutschland weniger Französischkenntnisse mitbringen, gehen in eine sogenannte „classe d’accueil”, eine „Willkommensklasse”. Eine hilfreiche Sache ist das, mit der es Folgendes auf sich hat: Wenn der Regierung von Quebec etwas heilig ist, dann ist das … nein, nicht der liebe Gott, sondern die französische Sprache. Ein engmaschiges Netz aus Gesetzen und Verordnungen und die zur Durchsetzung derselben eigens geschaffene Office Québecoise de la Langue Française, eine Art Sprachenpolizei, sorgen sich um die Bewahrung der sprachlich-kulturellen Identität Quebecs und achten auf das Primat der französischen Sprache. So dürfen beispielsweise Schilder, Plakate, Broschüren oder Speisekarten nur dann auch in einer zusätzlichen Sprache verfasst sein, wenn der französische Teil mindestens so auffällig wie der anderssprachige ist, Französisch ist als Geschäftssprache für alle Unternehmen mit Hauptsitz in Quebec gesetzlich vorgeschrieben sowie als Unterrichtssprache für alle Kinder aus Zuwandererfamilien. Damit sind wir bei den classes d’accueil, denn die Provinz Quebec verpflichtet Zuwandererkinder nicht nur zum Besuch französischer Schulen, sie hilft ihnen auch, in diesen zurechtzukommen, eben mit den classes d’accueil. Zu drei Vierteln der Unterrichtszeit steht hier Französisch auf dem Stundenplan, die verbleibende Zeit verteilt sich auf Mathematik, Kunst und Sport, und sobald die Kinder sprachlich reif sind für die Regelklasse, wechseln sie in diese. Da die classes d’accueil an den ganz normalen Schulen angesiedelt sind, steht den Kindern das Freizeitangebot dieser Schulen offen, meistens ein umfangreiches Sportangebot. So spielt Felix bei den Dragons – was französisch auszusprechen ist, weil’s erstens so ist und weil zweitens, wer weiß, vielleicht die Office Québecoise de la Langue Française mithört – Basketball, tourt mit seiner Mannschaft zu Auswärtspielen freitags quer durch Montreal und genießt zweimal die Woche ein Training der allerbesten Sorte: zwei fast schon professionelle Trainer und eine spielstarke Mannschaft aus lauter Jungs, die Spaß haben, bis zum Anschlag Basketball zu spielen.

Auch Franziska spielt bei den Dragons, und zwar Fußball, und fährt mit der Mannschaft zu Turnieren auch schon mal bis nach Ottawa. Außerdem bouldert sie, sie klettert also in einer Kletterhalle steile, gerne auch überhängende Kletterwände hoch und muss dabei nicht einmal angeseilt sein, weil die Wände nicht so hoch sind und der Boden mit richtig dicken Matten ausgelegt ist. In guten Wochen schafft sie es jeden Nachmittag zum Sport – zwei- bis dreimal Fußball und wann immer es geht bouldern. Außerhalb der Schule ist also alles okay. Und in der Schule? Nun, da gibt es sozusagen noch Luft nach oben, und das Leben wäre fast noch ein bisschen schöner, wenn ihre Mannschaftskameradinnen vom Fußball, mit denen sie so prima parat kommt, nicht ausnahmslos in die Parallelklassen gingen, denn in ihrer Klasse … Na ja, Schwamm drüber, pünktlich um halb vier ist jedenfalls Schulschluss – es sei denn, man hat noch eine Rückfrage an einen Lehrer, die dürfte man ja erst dann stellen – und in der Zeit bis halb vier hat sie dank des eher geringstressigen Unterrichts immer angenehm viel Gelegenheit, schon mal vom Bouldern und Fußballspielen zu träumen. Das hält auch bei Laune.

Katharinas Schule, die École Jean-Baptiste-Meilleur, liegt mit einer guten Viertelstunde Fußweg ein bisschen weiter von zu Hause entfernt als die von Franziska und Felix. Meistens gehen Katharina und Michael des Morgens gemeinsam dort hin. Michael macht das immer gerne, denn der Weg direkt auf die hinter der Jacques-Cartier-Brücke aufgehende Sonne zu ist nett, und sie erzählen sich dabei immer allerlei Sachen, über Freud und Leid mit den Klassenkameraden, über Hausaufgaben, Lehrer oder Fußball, und manchmal verabreden sie sich nach Schulschluss zum Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn gleich hinter der Schule. An der Schule setzt sich Michael dann auf sein mitgeschobenes Fahrrad und radelt Richtung Uni, und Katharina geht in ihre classe d’accueil zu Marc, dem coolen Lehrer aus Paris, dessen Nachnamen sie schon vergessen hat, weil Nachnamen an der Ecole Jean-Baptiste-Meilleur nicht so wichtig sind. Den Unterricht bei Marc mag Katharina jedenfalls sehr. Kurzweilig ist er, sogar mit Gruppenarbeit, was Franziska und Felix neidisch zur Kenntnis nehmen, und nach der Schule wartet ja oft noch das Karate- oder Fußballtraining.

In ihrer Fußballmannschaft ist Katharina übrigens, was alle erstaunt hat, das einzige Mädchen. „Ist aber nicht schlimm”, erklärt sie ihren Eltern, „eigentlich sogar gut, weil ich nämlich das beste Mädchen in unserer Mannschaft bin. Und mit den Jungs zu spielen, trainiert ganz gut.” Außerdem hat sich Katharina von einer Torhüterin, die sie noch bei Schwarz-Weiß Merzbach war, zur Feldspielerin entwickelt. „Torwart sein hat zwei Nachteile”, sagt sie. „Wenn die anderen besser sind, dann schießen die immer so stramm. Und wenn wir besser sind, hat der Torwart nichts zu tun, aber mit seinen dicken Handschuhen kann er noch nicht mal Däumchen drehen.” Aha.

Und dann ist da natürlich der Winter. Der begann Anfang Dezember, kurz nachdem Nancy erstmals in Montreal zu Besuch war und Mechthild und Michael für ein Wochenende nach Ville de Québec geschickt hatte. Da konnten sie zwei Tage ohne Kinder genießen, und ein letztes schneefreies Wochenende noch dazu, denn dann war er plötzlich da, der Winter, mit allen Freuden, die ein knapper halber Meter Schnee so mit sich bringt. Zuerst mal muss das am Straßenrand parkende Auto freigeschippt werden, gerne möglichst schnell, denn je länger man wartet, desto schwerer ist es, sich durch die vom Schneepflug aufgetürmte Mauer zu schaufeln. Außerdem passt man auf, wann die Stadt kleine orangene Schilder am Straßenrand aufstellt. Denn dann muss man sein Auto umparken, um Platz für ein sehenswertes Spektakel zu machen: das deneigement, der Abtransport des Schnees. Denn weggeschafft werden muss der Schnee, bei Montrealer Temperaturen taut er ja nicht von alleine, und so rückt eine beeindruckend große Schneefräse an, die den Schnee in der Art eines Mähdreschers auf neben ihr fahrende Sattelschlepper fördert, die ihn aus der Stadt schaffen.

Schneeschippen ist aber nur eine von vier bei Heinzelmanns praktizierten Wintersportarten. Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen kann man einmal die Rue Rachel runter im Parc La Fontaine. Da macht schon der Hinweg Spaß, besonders wenn man wie Katharina von Felix gezogen wird. Richtige Eintracht herrscht in solchen Momenten zwischen den beiden, und Katharina ist ganz aus dem Häuschen. „Super, Felix, schneller!”, feuert sie quietschvergnügt ihren großen Bruder an. Mechthild und Michael trauen ihren Ohren nicht. Hat Katharina gerade Felix gelobt? Ob man sich das im Kalender notieren sollte?

Im Parc La Fontaine garantiert eine kurze aber steile Rodelbahn rasante Abfahrten. Gut hundert Meter weiter ist auf dem zugefrorenen See des Parks Schlittschuhlaufen angesagt. Wie in einem Eisstadion wird das Eis des zugefrorenen Sees regelmäßig von einer Eisaufbereitungsmaschine auf Vordermann gebracht. Abends, bei Beleuchtung und klassischer Musik, fährt es sich immer am schönsten. Kein schlechter Service der Stadt Montreal. Auf dem Mont Royal, oberhalb der Montrealer Innenstadt, sieht’s ähnlich und fast noch ein bisschen schöner aus. Auch hier eine Eisbahn, ebenfalls tiptop aufbereitet, mit Musik und abendlicher Beleuchtung, und auch hier alles kostenfrei. Zudem lädt der Mont Royal zum Skilanglauf ein. Der Skiverleih ist gleich neben der Eisbahn und 20 Kilometer gespurter Loipen führen quer durch den Park.

Bei so einem vielfältigen Angebot macht es im Winter natürlich immer Spaß, sich draußen auszutoben. Doch ausgerechnet bei Felix, der sonst stets am ausdauerndsten durch den Schnee rennt, bekommt der Wintersport vor Weihnachten plötzlich Konkurrenz. Da verschanzt er sich immer öfter in seinem Zimmer und warnt jeden, der sich nähert: „Nicht reinkommen!”. Drinnen hat er sich, während Michael im Wohnzimmer verzweifelt das Canadian Geographic Sonderheft mit dem Tierfotowettbewerb sucht, dieses Heft auf seinem Schreibtisch zurechtgelegt und macht das, was er besonders gerne macht: Er malt und malt und malt und malt und malt und malt und malt und malt ... Weihnachtsgeschenke, für Eltern, Großeltern, Geschwister und die „Straßenomas” aus Halifax und Rheinbach.

Anfang Januar, Szenenwechsel. Katharina und Michael machen Pfannekuchen zum Abendessen. Franziska ist noch in der Kletterhalle, und Mechthild und Michael fragen sich, ob sie es vor lauter Kletterbegeisterung heute wohl pünktlich zum Essen schaffen wird oder nicht. Außerdem wollen beide alleine den Tisch decken, weil dann der andere raus in den Schnee „dürfte”, um das Auto zum deneigement umzuparken. Felix und Katharina erzählen sich von ihren jüngsten Erfolgen in Basketball und Fußball, von Drei-Punkte Würfen und Doppelpässen.

„Wenn jetzt Sommer wäre”, meint Felix, „könnte ich draußen Basketball spielen.”

„Wär’ aber blöd”, sagt Katharina, „weil wir dann nicht mehr in Montreal sind.”

 

Zum Glück dauert es bis dahin noch ein bisschen. Ein frohes neues Jahr wünscht

die Familie Heinzelmann

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